Martin Thierer  Auf den Punkt gebracht. Thilo Westermann – ein Werküberblick (2022)

Ein derart vielschichtiges und selbstreferenzielles Œuvre wie dasjenige von Thilo Westermann verlangt nach einem intensiveren Blick auf die thematische und formale Genese wichtiger Werkgruppen. Folgt man der chronologischen Reihung der Arbeiten, so begibt man sich auf einen verschlungenen Pfad, der erkennen lässt, aus welchen Überlegungen und Motivationen heraus Westermann seine künstlerischen Ideen entwickelt, wie er zu seinen oft neuartigen Techniken findet und warum der Entstehungsprozess bisweilen mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann.

Frühe Arbeiten

Bereits bei den Blei- und Buntstiftzeichnungen, die Westermann noch vor Studienbeginn anfertigte, wird sein Interesse an Pflanzendarstellungen sichtbar – ein Sujet, das sich durch sein gesamtes weiteres Schaffen ziehen wird. Die Faszination für die Darstellung von natürlichen Wachstums- und Verfallsprozessen mit der ihr innewohnenden Künstlichkeit und ihrer kulturhistorisch gewachsenen symbolischen Überhöhung tritt hier bereits deutlich zutage. So zeigen die frühen Motive immer wieder Lilien und Rosen, singulär oder zu Vanitas-Stillleben kombiniert. Auch Fensteransichten, die auf eine jahrhundertealte kunsthistorische Tradition zurückblicken, tauchen bereits früh in Westermanns Arbeiten auf. Dabei bleibt der Blick aus dem Fenster zunächst noch leer, die gesamte Konzentration richtet sich auf das unmittelbar Gegenwärtige. So wirkt ein im Gegenlicht dargestelltes Laubblatt einer Bougainvillea im bleistiftgrauen Umraum wie ein farbiges Energiefeld; ähnlich die Komposition einer zwei Jahre später entstandenen Zeichnung, auf der eine erloschene Kerze zusammen mit einem Bündel Hyazinthen im durch das leere Fenster hereinbrechenden Licht wie von innen heraus erstrahlt und sich die fast organisch-fragile Materialität des Wachses von der Härte des Marmorsimses, des Kunststofffensterrahmens und der Glasvase geradezu ätherisch absetzt.

Parallel dazu hält Westermann eine Reihe von Blütenpflanzen aus der heimischen Umgebung minutiös in verschiedenen Blühstadien mit Blei- und Buntstift fest. Im neutralen Ton wissenschaftlich-botanischer Zeichnungen verzichtet Westermann hier auf jegliche theatralische Inszenierung; auch gibt es weder Licht noch Schatten. Ähnlich einem botanischen Präparat, entfaltet sich die pflanzliche Struktur herausgelöst aus Raum und Zeit.

Hinter Glas

Mit dem Beginn erster Ausstellungstätigkeiten Anfang der 2000er-Jahre stellt sich die Frage, wie diese fragilen Papierarbeiten gezeigt, zugleich aber auch geschützt werden können. Westermann experimentiert mit verglasten Rahmungen und präsentiert seine Blätter wenig später, wie in Forschungssammlungen, unter Glashauben. Diese Präsentationsform unterstreicht den Objektcharakter der Werke, ähnlich wie beispielsweise Marcel Duchamps Readymades erst im musealen Kontext als Kunstwerke begreifbar werden. Um den kleinformatigen Werken diese nun gewollte Inszenierung immanent zu machen, sie also den Schutz ihrer eigenen Fragilität in Form einer Glasscheibe bereits in sich tragen zu lassen, beginnt Westermann seine Motive schließlich direkt auf der Rückseite von eben solchen Glasscheiben aufzutragen.

Eines der ersten so entstandenen Werke ist eine 15-teilige Arbeit, die Rosenblüten aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in verschiedenen Stadien des Blühens und Verwelkens zeigt. Statt die Farbe, wie bei der klassischen Hinterglasmalerei üblich, in lavierenden Schichten aufzutragen, setzt Westermann von Anfang an seine Motive – ähnlich wie die gerasterten Bilder der Druckmedien, jedoch manuell und nicht maschinell generiert – aus einzelnen Punkten zusammen. So modelliert er auch bei den einzelnen Bildern der Serie Rosen (2002) zunächst die Höhen des Gegenstands mit weißen und die Tiefen mit schwarzen Punkten, ehe er diese mit einer monochromen roten Farbschicht für die Blütenblätter und einer grünen beziehungsweise ockerbraunen für die Kelchblätter und die Stängel hinterlegt. Westermann überführt dabei den grafischen Gestus seiner Blei- und Buntstiftzeichnungen in das neue Medium hinter Glas. Die manuell gesetzten Rasterpunkte dienen ihm fortan dazu, seine Motive plastisch zu gestalten, unabhängig von der Eigenfarbe des jeweiligen Gegenstands, die erst ganz zum Schluss flächig hinter die Punkte aufgebracht wird.

Ähnlich wie in den von Westermann stets so geschätzten historischen botanischen Radierungen und Stichen, die zunächst rein schwarz auf Papier gedruckt und erst nachträglich auf Wunsch in Farbe koloriert wurden, konzentriert sich Westermanns Aufmerksamkeit ganz auf Umrisse und die Wiedergabe von Strukturen. Der Schritt, seine Bilder nach einer Weile des Experimentierens nur noch in Schwarz-Weiß anzulegen, erscheint daher nur konsequent und zeigt Westermann erneut als Zeichner.

Bouquet (2005), eine der ersten unbunten Arbeiten, präsentiert eine prächtige Komposition aus Zucht- und Gartenblumen. Knospen, voller Blütenstand und verwelkte, teils abgefallene Blütenblätter vereinigen sich zu einem klassischen Vanitas-Motiv, dessen gestochene Schärfe und Makellosigkeit an frühe piktoralistische Fotografien des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnern – aus der Zeit, in der das neue Medium durch Nachahmung der Malerei noch seine eigene Sprache suchte.1 Die in Westermanns Komposition ebenfalls aufgenommene postkartenähnliche Werbung der Modemarke Prada zeugt weniger von seinem Interesse an den zur Schau getragenen Kleidungsstücken, als vielmehr – ebenso wie die Karte in Madonna (2007) – von dem intensiven Studium der unterschiedlichen Darstellungs- und Präsentationsmodi in der Welt der Hochglanzmagazine, der fotografischen und gedruckten Bilder sowie der Reproduktion von Kunstwerken im Postkartenformat.

Dass Westermann wenige Jahre später nun eben nicht auf die weit verbreiteten Stiche nach Motiven des französischen Künstlers Pierre-Joseph Redouté (1759–1840) als Vorlage zurückgreift, sondern eines von dessen raren Ölgemälden adaptiert, ist interessant. Ähnlich wie die Reprografen des 18. Jahrhunderts übersetzt Westermann Redoutés malerische Darstellung in ein feines Punktraster, jedoch nicht um diese möglichst detailgetreu wiederzugeben oder gar zu reproduzieren, sondern um sie in das eigene Werk als neue originäre Arbeit einzuschreiben. Entsprechend scheinen zwar noch die Girlande am oberen Ende der Vase, die perlenden Wassertropfen sowie die sich rechts ins Bild schiebende Rosenknospe durch das Vorbild motiviert, doch unterscheiden sich die Rosen deutlich von jenen Redoutés. An die Stelle der vielblättrigen Rosa centifolia setzt Westermann Blüten einer modernen Rosenzüchtung des britischen Züchters David C. H. Austin (1926–2018), die nach dem französischen Künstler als Rose Redouté benannt und 1992 auf den Markt gebracht wurde.2 Die Aktualisierung, die das Bildmotiv durch die jüngere Rosenzüchtung und den Verzicht auf die barocke Vanitas-Symbolik erfährt, belegt nicht nur Westermanns hervorragende Kenntnis der kunsthistorischen Zusammenhänge sowie der botanischen Züchtungshistorie, sondern zeigt sein Streben, das Weiterleben und die Legitimität des Historischen in der Gegenwart zu prüfen.3

Buntstiftzeichnungen

Ab 2009/10 taucht Farbe in Westermanns Arbeiten wieder häufiger auf. In einer Serie von monochromen Buntstiftzeichnungen tritt die Wichtigkeit des Bildmotivs in den Hintergrund und allein die Farbbezeichnung des verwendeten Stifts scheint die Arbeiten zu motivieren. Mit Auslassungen, Schraffuren und immer wieder fein gepunkteten Flächen schafft Westermann – wie in seinen Stillleben hinter Glas – fast organisch wirkende Kompositionen. Die verwendete Farbe, deren Herstellernamen gleichzeitig titelgebend für das Werk ist, scheint die gebildeten Formationen zu beeinflussen. So meint man beispielsweise in Warmgrau II (2009) und Warmgrau IV (2011) felsenartige Gebirgsformationen zu erkennen. Auslassungen und unbezeichnete Stellen in den genannten Werken deuten Nebel oder Wolken an. Die Arbeiten erinnern in ihrem subtilen Erscheinen an die klassische chinesische Landschaftsmalerei. Anders als die Werke etwa von Fan Kuan 范寬 (um 960 – um 1030) oder Guo Xi 郭熙 (um 1020 – um 1090) bleiben Westermanns Bilder aber abstrakt: jegliche Spur menschlichen Bildpersonals oder von Gegenständen, die uns als Vergleichsmaßstab für die Größe der „Berge“ dienen könnten, fehlt. Die kleinformatigen Buntstiftzeichnungen, die Westermann auf Papier, später auf grundierte Alu-Dibond-Platten aufbringt und somit ähnlich den Hinterglasbildern zu eigenen Objekten macht, bringen den Aspekt der Stofflichkeit wieder zurück in sein Werk, welcher im kristallinen Erscheinungsbild der Hinterglasbilder fast ausgeblendet war.

Neue Technik

Es verwundert also nicht, wenn Westermann 2013/14 als neues Motiv die fernöstlichen Gelehrtensteine aufgreift, die ihm während seines Studiums der chinesischen Tuschemalerei begegnet waren. Die ausdrucksstarken Steine natürlichen Ursprungs wurden über Jahrmillionen durch fließendes Wasser oder durch Winderosion geformt. Gesucht und gefunden, dienten sie Gelehrten im Studierzimmer oder im Landschaftsgarten als Objekt der Kontemplation. Die Durchbrüche und kleine Löcher in der festen Gesteinsmaterie regten Westermann an, sich intensiver mit dem Verhältnis von Fülle und Leere in den fernöstlichen Ästhetiken und Bildkonzeptionen auseinanderzusetzen. Wie einschneidend die Beschäftigung damit war, zeigt ein Vergleich der beiden Arbeiten Gelehrtenstein (2013) und Gelehrtenstein (2) (2014). Der Stein auf dem früheren Bild erhebt sich silhouettenhaft vor dem schwarzen Bildfond. Am unteren Ende weisen die Spiegelung und die angedeutete Fortsetzung des Steins auf die fernöstliche Gepflogenheit hin, solche Steine in Wasserbassins aufzustellen, um das Feste mit dem Flüssigen zu kombinieren. Der spätere Gelehrtenstein Westermanns scheint hingegen beide Elemente in sich zu vereinen. Dieser Eindruck ist sicherlich auch zum Teil seiner neuen Technik zuzuschreiben, die bei diesen Arbeiten zum ersten Mal zum Einsatz kommt.

Anders als bei seinen früheren Hinterglasbildern versieht Westermann nun die gesamte Rückseite der Glasscheibe mit einer dünnen schwarzen Farbschicht, die er mit einer Nadel punktuell wieder wegnimmt und abschließend mit einer weißen Farbschicht versiegelt. Von vorne betrachtet scheint die weiße Farbschicht an jenen Stellen wie Licht hindurch, die der Künstler zuvor aus der schwarzen Farbschicht entfernt hat. Statt wie früher die Verschattungen des Bildmotivs mittels schwarzer Punkte zu modellieren, konzentriert er sich seither auf die Höhen des Motivs, das aus Lichtpunkten gebildet zu sein scheint.4 Die die früheren Arbeiten kennzeichnende trennscharfe, silhouettenhafte Abgrenzung von Form und Grund kann nun gezielt kontrolliert, aufgehoben oder herbeigeführt werden, je nachdem ob eine Linie eine scharfe Begrenzung markiert oder vereinzelte Punkte diese nur andeuten. Motiv und Grund sind ab jetzt ineinander verwoben und bilden eine Einheit.

Unikatdrucke

Um seinen Werkprozess zu thematisieren und den oft von den Betrachtenden flüchtig als Fotografien oder Drucke wahrgenommenen kleinformatigen Arbeiten ihren malerischen Charakter zurückzugeben, entscheidet sich der Künstler dafür, die einmal vollendeten Hinterglasbilder zu scannen und einen sogenannten Unikatdruck – meist in sechsfacher Vergrößerung – fertigen zu lassen. Nur ein einziges Mal gedruckt und anders als die bloße Reproduktion eines Originals, kommt Westermanns Unikatdruck der Stellenwert eines neuen Originals zu, das zusammen mit der ursprünglichen Malerei, aber auch einzeln für sich stehen kann. Erst dieser maschinell erzeugte Druck macht unter anderem die handwerklichen Aspekte des Motivs wieder sichtbar, welche die kleinformatige und tatsächlich von Hand gearbeitete Hinterglasmalerei kaum erkennen lässt. Es handelt sich somit um zwei unterschiedliche Sichtweisen auf ein und dasselbe Motiv. Geht es bei der Herstellung der Malerei um das Abbilden eines bestimmten (fiktiven) Motivs, fokussiert der Unikatdruck auf das grafische Kürzel des Punktes. Die Vergrößerung macht deutlich, dass es sich eben nicht um maschinell erstellte Rasterpunkte handelt, sondern um von Künstlerhand gesetzte Zeichen in einer subjektiven Motivwiedergabe.

Fotomontagen

Die Studienjahre und Aufenthalte in Fernost führen in Westermanns Schaffen nicht nur Neuerungen auf technischer, sondern auch auf motivischer Ebene mit sich. So lassen die oft zusammen ausgestellten Arbeiten Paeonia lactiflora in einer Vase mit Drachenrelief (2013) und Lilien in einer Kristallvase und Karte mit Putto (2013) bei eingehender Betrachtung engere Verschränkungen erkennen, als zunächst zu vermuten wäre. Die Pfingstrosen des ersten Motivs stecken in einer fernöstlich dekorierten Vase. Der auf einer Postkarte reproduzierte Putto von Ignaz Günther (Stiftskirche Weyarn) des zweiten Motivs zeigt über die Grenzen des Bildes-im-Bild hinweg auf ein Kristallglasgefäß mit weißen Lilien. Bei Letzteren handelt es sich jedoch nicht um die typisch westliche, aus der mariologischen Symbolik bekannte Sorte, sondern um einen Import aus Asien. Analog gehören die von Westermann dargestellten Pfingstrosen einer Sorte an, die nicht – wie die Gattung vermuten lässt – aus Fernost stammt, sondern von dem französischen Blumenzüchter Victor Lemoine (1823–1911) in Europa kreiert wurde und die sich seit ihrer Markteinführung 1906 unter dem Namen der berühmten Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923) im Westen anhaltender Beliebtheit erfreut.5 Damit rückt Westermann die Kultivierungsgeschichte der Lilien und Päonien an die Stelle der herkömmlich bekannten und über Jahrhunderte tradierten Symbolsprache der Blumen, die in seinen frühen Arbeiten noch klassisch gelesen werden kann. Er lädt damit die althergebrachte Bildtradition mit zeitgenössischer Relevanz auf und verleiht ihr einen völlig neuen Bedeutungshorizont.

Die Entdeckung, dass eine ursprünglich aus China stammende Pflanze nach einem westlichen Bühnenstar benannt wurde, beschäftigt Westermann nachhaltig.6 Ein erstes „Produkt“ dieser kulturhistorischen Recherchen zur Pfingstrose stellt die Fotomontage „Paeonia lactiflora“ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014 (2014) dar, für die Westermann sein Bild der verwestlichten Päonie in das luxuriöse Umfeld der Waldorf Astoria Towers verpflanzt – einen Ort, an dem man sich die „göttliche Sarah“ selbst gut während einer ihrer Tourneen vorstellen könnte. Durch digitale Montage erscheint die Hinterglasarbeit plötzlich im Foyer der Towers und verleiht so dem neobarock- US-amerikanischen Ambiente vordergründig eine „exotische“ Note, die das Hotel als weltoffenen Ort des Austauschs und der internationalen Gastfreundschaft spiegelt.

Westermann spürt in seinen Fotomontagen dem Genius Loci ausgewählter Orte nach, verwebt Vorgefundenes mit recherchierten historischen Begebenheiten und zeigt Zusammenhänge auf, die ansonsten verborgen blieben. Ähnlich wie er in seinen Hinterglasbildern die Motive Punkt für Punkt entstehen lässt, schießt er sich an den von ihm gewählten Orten Detailfoto um Detailfoto in die vorgefundene Atmosphäre ein. Kleinste Unebenheiten, Texturen und Lichtreflexe werden akribisch festgehalten, um, zurück im Atelier, die ursprünglich empfundene Atmosphäre rekonstruieren zu können. Zum fotografischen Ausgangsmaterial kommen nun persönliche Empfindungen, Vorerfahrungen, die subjektive Wahrnehmung der Orte und Assoziationen mit diesen hinzu. Ebenso können Gespräche mit Eigentümern, eigene Recherchen zu Sammlungsgegenständen oder historische Zusammenhänge in die Bilder einfließen, das Mobiliar etwa aus einem Nachbarzimmer oder mit dem Ort Assoziiertes – alles kann digital hinzugefügt werden. Westermann betreibt eine Mise en Scène, die der eines Filmregisseurs ähnelt, der sein Setting dergestalt verdichtet und komponiert, um den maximal möglichen Bildeffekt im scheinbar alltäglich Realen zu erzielen.7

Der langwierige Prozess des Recherchierens und des kleinteiligen Montierens der einzelnen Bausteine kann sich mitunter über Monate oder Jahre hinziehen. So war auch die Entscheidung, das Bild der Paeonia lactiflora Sarah Bernhardt mit dem Interieur des Park Avenue Hotels kurzzuschließen, alles andere als beliebig. Das Hotel als Ort der Gastfreundschaft und Treffpunkt internationalen Austausches mag selbstverständlich die persönliche Situation Westermanns als Reisender in Amerika spiegeln. Im Fall des Waldorf Astoria Hotels jedoch gehen die Verbindungen tiefer, da die Familiengeschichte der Astor-Familie in das badische Walldorf zurückführt, von wo aus Johann Jakob Astor Ende des 18. Jahrhunderts zu seinem kometenhaften Aufstieg zu einem der reichsten Menschen Amerikas aufgebrochen war. Die Tatsache, dass der Self-made-Millionär nicht nur mit Pelz- und Immobilienhandel Geschäfte machte, sondern auch mit Porzellan aus Fernost gehandelt haben soll, schließt die Klammer zu der mit einem chinesischen Drachen verzierten Vase auf Westermanns Bild und ebenso zur Kulturgeschichte der Pfingstrose, die etwa als Sorte Paeonia lactiflora Sarah Bernhardt selbst Weltruhm erlangt hat.

Westermanns Begeisterung für eine im Metropolitan Museum of Art in New York aufbewahrte Orchideendarstellung des chinesischen Tuschemeisters Ma Lin 马麟 (um 1180 – nach 1256) geht auf einen frühen Aufenthalt in den USA zurück, woraufhin er 2014 beginnt, sich intensiver mit dem Bild und seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Die Zartheit der Linien und die „wie hingehaucht leicht wirkenden Orchideenblüten“ in die eigene schwarz-weiße Punktiertechnik hinter Glas zu überfuhren, stellten eine besondere Herausforderung dar.8 Der klassischen Tradition der Verbesserung des eigenen künstlerischen Könnens durch das Kopieren der Bilder von ausgewiesenen Meistern folgend, wiederholt Westermann das Motiv der chinesischen Malerei zunächst in seiner Hinterglastechnik. Er studiert aber nicht nur das Werk des höfischen Song-Malers aus malerischen Aspekten, sondern reflektiert in einer Fotomontage auch den gegenwärtigen Verbleib des Bildes in einem westlichen Museum, dessen Ausstellungsdisplay er wiederum in einer Vielzahl von Detailaufnahmen festgehalten hatte. Für die Fotomontage „Chinesische Orchidee (Hommage an Ma Lin)“ im Metropolitan Museum of Art, New York 2014 (2014) rekonstruiert er nun die ursprüngliche Situation und „erprobt“ seine Kopie im musealen Umfeld der asiatischen Abteilung des „Met“. Das Schildchen neben dem Exponat wurde dafür sorgfältig und unter Beibehaltung des Schreibfehlers des ursprünglichen Textes digital umgeschrieben. Es nennt nicht nur die genaue Inventarnummer des Song-zeitlichen Tuschebildes – „Related art work: C. C. Wang Family, Gift of the Dillon Fund, 1973 (1973.120.10)“ –, sondern berichtet genau über die Genese von Westermanns Hinterglasbild: „This orchid painting originates from an ink on silk painting by Southern Song dynasty painter Ma Lin (ca. 1180–1256), who excelled at making crystalline images of flowers, stripped way [sic] extraneous elements to allow a boldly composed image to shine. By appropriating the motif and transferring it into his technique of reverse glass painting, Westermann not only pays tribute to the old Chinese tradition of copying master painter’s works, but also recreates the flower motif through the meticulous placement of dots.“

Die Verbindung nach China bildet die im Folgejahr entstandene Fotomontage „Chinesische Orchidee (Hommage an Ma Lin)“ im Himalayas Art Museum, Zhujiajiao 2015 (2015). Das Motiv der chinesischen Orchidee ist hier durch eine geöffnete Tür im Inneren eines Gebäudes zu erkennen, das durch den Bildtitel als Außenstelle des Himalayas Art Museum in Zhujiajiao zu identifizieren ist. Nicht weit vom ehemaligen Schaffensort Ma Lins in Hangzhou entfernt, verbringt Westermann 2015 einen mehrmonatigen Stipendienaufenthalt in der auch als „Venedig Shanghais“ bekannt gewordenen Großgemeinde, wo noch heute Relikte der Pracht der alten Gelehrtengärten zu finden sind. Das in den Gärten zentrale harmonische Ineinandergreifen von innen und außen sowie das gestalterische Prinzip des „gerahmten Blicks“, wonach ein Fenster oder eine Tür den Blick auf eine Landschaft freigibt und diese wie ein Gemälde in einem Rahmen erscheinen lässt, findet sich in Westermanns Fotomontage wieder. Der zu beiden Seiten versperrte Blick wird sofort auf das spiegelnde Bild, den großen Unikatdruck, gelenkt, das nicht den oder die Betrachter: in, sondern den Hof und gegenüberliegenden Gebäudeteil reflektiert.

Die Fotomontage „Chinesische Maskerade“ im Amanfayun, Hangzhou 2019–2020 (2020) schließt sich geografisch direkt an die bereits erwähnte Region an. Inspiriert durch zwei im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg aufbewahrte Teller, die jeweils ein europäisches Paar vorführen und ursprünglich für einen chinesischen Markt gefertigt wurden, auf dem sich derartige Europerien großer Beliebtheit erfreuten, kreiert Westermann die Hinterglasarbeiten Chinesische Maskerade (2020) und Chinesische Maskerade (2) (2020), die je eine mit den auf den Tellern gefundenen Motiven dekorierte fiktive Vase zeigen. In dieser steckt ein stilisierter Strauß aus Pfingstrosen, der ebenfalls auf einem der beiden Teller zu finden ist. Westermann transferiert das erste seiner beiden Werke nun ins Hotel Amanfayun, welches sich im chinesischen Hangzhou befindet und wo der Künstler 2019 fotografiert hatte. Aus einer Vielzahl einzelner Nahaufnahmen rekonstruiert Westermann en détail einen Tisch, einen Stuhl und einen hölzernen Paravent, die ursprünglich über das gesamte Hotelareal verteilt waren, jedoch in der digitalen Zusammenschau seine Wahrnehmung des Ortes am besten repräsentieren. In der so geschaffenen Studiolo-Atmosphäre liegt neben dem aufgeschlagenen Bestandskatalog der Hamburger Porzellansammlung das daraus hervorgegangene Hinterglasbild. Beide Objekte sind wie in einer ost-westlichen Konversationsszene auf den chinesischen Holzstuhl mit Stilllebenornament ausgerichtet. Der ursprünglich blickdichte, für die Fotomontage aber durchlässig gemachte Paravent dahinter lässt einen jener Gelehrtengärten erkennen, die Westermann selbst in Hangzhou am Westsee studiert hatte.

Migrations by Thilo Westermann und die Correspondance avec Stéphanie

Eine Qing-zeitliche Vase mit Blumendekor aus der Sammlung des Bayerischen Nationalmuseums in München, die nach dem Import in Europa mit französischen Silbermontierungen und einem inzwischen entfernten Auslasshahn versehen wurde, um bei Tisch als Wasserspender zu dienen, inspirierte Westermann zu einem Stillleben, in dem das hybride chinesisch-französische Gefäß im Zentrum steht. Ohne seinen aufklappbaren Deckel dargestellt, ist es in dem Hinterglasbild mit einem „best of“ von Westermanns früheren Arbeiten vereint. Ein Exemplar der Pfingstrosen aus Paeonia lactiflora in einer Vase mit Drachenrelief (2013) ist neben der von Westermann wiederholt dargestellten singapurianischen Nationalblume, der Orchidee Vanda Miss Joaquim, sowie der Vanda coerulea aus Vanda coerulea in einer Kristallvase (2012) zu sehen und bildet so zusammen mit dem Gefäß ein Miteinander ost-westlicher Neuzüchtungen und künstlerischer Überarbeitungen.

Die Auseinandersetzung mit dem Hybridgefäß und ein privater Rundgang durch die Porzellansammlung der Verbotenen Stadt in Peking mit der Kuratorin Zheng Hong 郑宏 veranlassten Westermann, seine über die Bildinhalte hinausgehenden Forschungsergebnisse im Künstlerbuch Migrations by Thilo Westermann (2023) festzuhalten.9 Zwischen New York, Virginia, Beijing, Shanghai und Paris trat ihm das von Roger M. Buergel und Ruth Noack formulierte Schlagwort der „Migration der Formen“ anschaulich ins Bewusstsein. Um das Beobachtete, Gehörte und Recherchierte zu dokumentieren und greifbar zu machen, lud Westermann seine Diskussionspartner:innen ein, Textbeiträge über jene Themen zu verfassen, über die sie mit ihm gesprochen hatten. So setzen sich die Texte unter anderem mit dem ikonografischen Wandel sowie der Wanderung der Motive der chinesischen Pfingstrose und des Gelehrtensteins auf chinesischen Porzellanen, der Kulturgeschichte der Pfingstrose im Allgemeinen, den kolonialistischen Mechanismen der East India Company, den ökonomischen Prinzipien der besseren Vermarktbarkeit neuer Züchtungen auf dem umkämpften Blumenmarkt oder der Reaktion chinesischer Künstler:innen und Handwerker:innen auf westliche Einflüsse auseinander und verleihen Westermanns Anliegen der Sichtbarmachung kulturhistorischer Prozesse eine zusätzliche Dimension.

Trägt bereits das Künstlerbuch Migrations by Thilo Westermann trotz der Wissenschaftlichkeit der einzelnen Textbeiträge autobiografische Züge – zu Beginn des Buches stellt der Künstler die einzelnen Autor:innen in einem Letter to the Reader vor –, bildet die Entdeckung eines Porträtstichs der Adoptivtochter Napoléons und ehemaligen Großherzogin von Baden, Stéphanie de Beauharnais (1789–1860), den Ausgangspunkt für die weitverzweigte schriftliche Arbeit Correspondance avec Stéphanie. Wohl um Stéphanies Lebensumstände und Historizität wissend, dient sie Westermann als musenhafte Projektionsfigur und zugleich als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand. Als sei sie eine noch lebende Kunstsammlerin, hält er sie – und damit zugleich die jeweiligen Leser:innen – in handgeschriebenen Briefen über sein künstlerisches Schaffen, seine Recherchen und Gedankengänge auf dem Laufenden. Das bislang nur in einer Auswahl veröffentliche Konvolut an Briefen10 dokumentiert aktuelle politische wie soziale Ereignisse und nimmt mitunter die Form kulturwissenschaftlicher Abhandlungen an. Ähnlich wie in seinen Fotomontagen verknüpft Westermann hier Persönliches und subjektive Wahrnehmung mit wissenschaftlicher Forschung, Geschichte und Gegenwart und schafft damit fiktive Dokumente, die ein dichtes Gespinst interkultureller und überzeitlicher Verbindungen deutlich werden lassen.

Folgt man Thilo Westermanns Werklauf, so wird deutlich, wie sich aus einem ursprünglichen rein motivischen Interesse ein ganzer Kosmos von kulturhistorischen und formalen Assoziationen entspannen und auffächern kann. Westermann verfolgt die sich ihm eröffnenden Möglichkeiten seines künstlerischen Labyrinths konsequent zu Ende und ermutigt die Betrachter:innen, ihren eigenen Abzweigungen zu folgen, um andere Blickwinkel einnehmen und neue Wege von ausgetretenen Pfaden unterscheiden zu können.


1 Vgl. Dominique de Font-Réaulx, „Mélange der Genres“, in: Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hrsg.), Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 229–238, hier S. 233–235.

2 Vgl. Michael Marriott, „David Austin’s English Rose ‘Redouté’“, in: Migrations by Thilo Westermann, Mailand 2023, S. 91–94, hier S. 94.

3 Wie Westermann selbst festhält, war er überrascht, dass Austin sich nicht wie ein Künstler formal von Vorlagen wie etwa Redoutés Stichen zu seiner Rosenzüchtung inspirieren ließ, sondern dass die einmal gezüchtete Rose erst nachträglich und rein zu Vermarktungszwecken ihren Namen nach dem bekannten Meister erhielt. Vgl. „Letter to the Reader“, in: Migrations by Thilo Westermann 2023 (wie Anm. 2), S. 6–12, hier S. 9f.

4 Vgl. Xavier Salmon, „Mit Licht zeichnen“, S. 109–111.

5 Jane Fearnley-Whittingstall, „The Migration of Peonies“, in: Migrations by Thilo Westermann 2013 (wie Anm. 2), S. 53–73, hier S. 65.

6 In seinem Dossier schreibt er: „Hat etwa die Pfingstrose ihre Wurzeln in Ostasien, galt sie im Westen zu Beginn ihrer Einführung als begehrtes Luxusobjekt und wurde anschließend dort weiterkultiviert. […] Nach dem Fin-de-Siècle-Bühnenstar benannt, war die Pflanze so selbst ihres Namens und damit endgültig ihrer fernöstlichen Herkunft entledigt. Sie war gänzlich dem westlichen Kulturkanon eingeschrieben worden.“ Thilo Westermann, Dossier, Januar 2022.

7 Auf den Aspekt des Filmischen in Westermanns Fotomontagen hat auch Markus A. Castor hingewiesen: Vgl. ders., „Schreiben, Punktieren, Belichten und die montierte Zeit. Thilo Westermanns poetische Vermessung zwischen Natur, wissenschaftlicher Ergründung und Geschichte – eine Einleitung“, in: Castor/Kronenwett (wie Anm. 1), S. 213–226, hier S. 213f.

8 Vgl. Dossier 2022 (wie Anm. 6).

9 Vgl. „Letter to the Reader“, in: Migrations by Thilo Westermann 2023 (wie Anm. 2), S. 6–7.

10 Castor/Kronenwett 2022 (wie Anm. 1).

Publiziert in Vitromusée Romont (Hg.), Thilo Westermann et l'art de dessiner sous verre, Berlin/Boston 2022, S. 113–131.