Markus A. Castor  Schreiben, punktieren, belichten und die montierte Zeit. Thilo Westermanns poetische Vermessung zwischen Natur, wissenschaftlicher Ergründung und Geschichte – Eine Einleitung (2022)

Thilo Westermanns Arbeiten hinter Glas, auf Papier, als Buch und (nur vermeintlich) auf Zelluloid, als Datei, die uns die Reaktion des fotografischen Sensors festhält, kratzen an der Zeit. Ihre Techniken führen ihr eigenes Zeitmaß mit sich. Das Scannen, Auslösen und Belichten, Punktieren und Zeichnen, Montieren, Rahmen und nicht zuletzt das Schreiben geben dem Werk seinen choreografischen Rythmus. Die Kompressionen der Verfahren im Œuvre Thilo Westermanns, das mille-feuillekanonischer Gattungen der Künste, stoßen uns in die Ununterscheidbarkeit der Naturen solcher Prozesse, wenn es um die Wahrnehmung geht. Monotypie, Kupferstich, Fotoabzug und Zeichnung werden aufgerufen, transformieren sich zum technischen Verfahren digitaler Postproduktion, doch ohne ihr Herkommen, den historischen goût, zu tilgen. Im Blick auf diese medialen Grenzüberschreitungen erfasst uns ein gedanklicher Taumel, und zugleich erschaffen die daraus aufsteigenden Bilder eine befremdliche, ja fast beunruhigende Stille. Sie zeigen uns eine Statik, deren Verfugungen sich jederzeit auflösen können, um in anderer Konfiguration erneut Verbindungen einzugehen. Gedanken an Filmstills stellen sich ein: in den stilllebenähnlichen Montagen an Hitchcocks beklemmende Nahsichten, etwa wenn Ingrid Bergmann mit der Gabel in die damastene Tischdecke ein Streifenmuster eingraviert, im Film ein wiederholtes Streifenmotiv, welches bei Gregory Peck in der Rolle des John Ballantyne zum psychotischen Erinnerungsflash führt [Abb. 1]; oder mit den Berichten der Briefe, die an die Perspektiven eines Alexander von Humboldt oder Aimé Bonplands, des Botanikers von Malmaison, erinnern, die wir in Diego Rísquez’ Orinoko dem pflanzlichen Kosmos entgegentreten sehen [Abb. 2]. Das Verharren, die drängende Stille, welche die Luxuria einer Hotelästhetik in Bilder stumm gestellter Fragen überführen, resultieren aus den Bedingungen der Entstehung der Kunstwerke. Sie führen hier zu einer bedacht gewollten und dort zu einer technischen, der Materialbearbeitung geschuldeten zwingenden Langsamkeit. Und erst das geduldige Eintauchen in diese sehr persönliche Sicht auf die Dinge macht es uns möglich, der Anschauung der Bilder eine Geschichte, einen Sinn zuzuordnen, welche die Anspannung vor dem Bild einer Entlastung zuführt. Die, wenn man so will, Rahmenerzählung trägt zur Auflösung des Rätselhaften bei, auch wenn wir in den aufgeschlagenen Kapiteln erneut in die Räume der Unergründlichkeit gelangen.

Im zeitlich begrenzten Beieinander der Exponate in der Baden-Badener Ausstellung Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden wird das Werk zu einem Schnitt durch die Zeit. Buch und Ausstellung konzentrieren Ansichten, Zeugnisse und Bilder, die aus den Jahren der Beschäftigung des Künstlers mit seiner Korrespondentin Stéphanie de Beauharnais hervorgegangen sind. Als Adoptivtochter Napoleons und Gemahlin des Erbprinzen Karl Ludwig Friedrich, des Großherzogs von Baden, ist der Ort der Ausstellung derjenige ihrer Sommerresidenz. Diese Beziehung des Künstlers mit der 1860 in Nizza verstorbenen Stéphanie ist keineswegs abgeschlossen. Sie findet ihre Fortsetzung, zunächst mit einem Besuch des Pariser Palais Beauharnais im Spätsommer 2021.

Bislang liegen uns Hinterglasmalereien, Unikatdrucke, Fotomontagen, Zeichnungen und zahlreiche Briefe vor. In ihrem Beieinander ist es kaum möglich, die Dinge auseinanderzuhalten und in eine Ordnung zu bringen. Dominique de Font-Réaulx führt uns in der Analyse der Bilder zu den Geheimnissen der Techniken und zu kunsthistorischen Anknüpfungspunkten, samt genauem Blick auf die Formen, Materialitäten und Texturen und schließlich die doppelte Natur der fotografischen Arbeiten Thilo Westermanns. Das hilft uns, Werk und Leben des Künstlers zwischen den Polen von Künstlichkeit und Realitätssinn, Retrospektion und Modernität besser zu verstehen. Harriet Zilch schlägt in ihrem Beitrag die Brücke, die sich mit der Motivwanderung aus den Fotomontagen zu den an Stéphanie adressierten Briefen ergibt. Denn auch den beschriebenen Seiten eignet ein Eingravieren von Gedanken und Erinnerungen, die uns an einen Briefroman denken lassen, wie er, als Fiktion, zwischen Heloïse und Abelard zum Zwiegespräch führte. Anne Reverseau lässt uns mit ihrer Bezugnahme auf den archival turn der jüngeren Kunst die Rolle Stéphanies als Muse zwischen Materialisierung in den Briefen und imaginärer Dematerialisierung besser verstehen. Wie sehr die Briefe als Gattung, aber auch ihrer formal sprachlichen Eigenheiten nach von den französischen Vorläufern mitgeprägt sind – von Marivaux’ fiktiven Briefen bis hin zu Diderots Salons in der Correspondance Littéraire –, zeigt uns Magali Nachtergaels Je vous écris une lettre…

Das Literarische ist Garant für die Einführung eines Narrativs, eine über die Zeiten hin entfaltete Erzählung, die keinerlei lineare Geschichten bereithält, sondern Geschichte in eine mäandernde Gleichzeitigkeit von Privatem, Anekdotischem, Novellenhaftem überführt. Bisweilen gibt uns der Kunsthistoriker Westermann Passagen eines wissenschaftlichen Berichtes. Alles bleibt eingebettet in die unaufgeregte Poetik einer Innerlichkeit, die seinen Briefen und dem Gesamtwerk eignet. Wir erfahren dann nach dem Lesen der Seiten umso mehr den zunächst harten Kontrast, der sich im Auftreffen des Auges auf die blanke Oberfläche des Glases ergibt.

Hinterglasmalerei, das Skulptieren aus Licht und der fotografische Dopplereffekt

Das hinter dem Glas befindliche, nur dem Auge und nicht der Hand zugängliche Gitter aus Schwarz und Weiß, das uns an altmeisterliche Kupferstiche und ihre über Jahre andauernde Entstehung erinnert, wirkt wie eine für die Ewigkeit eingeschriebene Signatur. Wie auf HALs Glasspeichermedien, den Platten mit programmierten Informationen aus dem Computerraum in Stanley Kubricks A Space Odyssey, entstehen hier Gebilde [Abb. 3]. Die Transparenz kontrastiert mit der Härte der Zeichen, die in Koordination von Auge und Hand langsam entstanden sind. Die aus der schwarzen rückseitigen Beschichtung freigelegten Punkte lassen uns aus mikroskopischer Nahsicht das fantastische Werden eines Anderen, einer Blume, gewahr werden – als molekulare Existenz hinter den Gegenständen, deren Schein wir auf der Glasplatte erfahren [Abb. 4]. Man könnte bei der Technik des Pointillé auf Glas an gelaserte, binär codierte Digits denken, an ein durch das An und Aus, Hell und Dunkel generiertes Bild. Das Gegenteil aber ist der Fall, und die manuelle Präzision der Zurichtung erhält so die Zeit und die Passion, die Mühen und die Erfüllung individueller, menschengemachter Kreation. Diese ist, mit der Notwendigkeit einer lupenhaften Nahsicht, ein Werken in anderer Dimension. Als Vexieren zwischen zweidimensionalem Geviert und Skulptieren verweist die Hinterglasmalerei zugleich auf die retinalen Prozesse, gleicht fast einer Operation am offenen Auge, die diejenigen Rezeptoren freilegt, die auf das Ein- und Ausschalten des Lichts reagieren.

Das Simulacrum als Ergebnis monatelanger manueller und optischer Handwerklichkeit erfährt eine, fast möchte man sagen, philosophische Doppelung, wenn wir das Resultat im Unikatdruck entdecken. Hier entscheidet der hochauflösende Scanprozess über das Bild vom Bild, dessen Pixel uns unsichtbar bleiben. Es geht dabei auch um die physiologischen Bedingungen des Sehens, denn es ist eine Frage der Maßstäblichkeiten und des Auflösungsvermögens des Auges, ob wir die Natur des Bildes bis in seine Bausteine hinein erkennen. Das Konvolut der Briefe an Stéphanie funktioniert ganz ähnlich im Blick auf Geschichte. Je mehr Details sich im Schreiben zeigen, umso reicher wird unser Bild der Ereignisse, und es entdecken sich Realitäten weit hinter den üblichen Historien, als Einschlüsse des menschlichen Faktors. Hier wie da werden wir verwiesen auf die Bausteine der Existenz, im Bild auf diejenigen des Visuellen als kleinste Einheiten der Darstellung, die im Eintritt in die Wahrnehmung Schimären unseres Kortex erzeugen. Wir werden uns der physiologischen Bedingungen unseres Sehens, der Addition der Data zu einem Bild der Netzhaut und zugleich der Abhängigkeit von den zerebralen individuellen Interpretationen der sichtbaren Welt bewusst.

Raumverschiebungen als Bedeutung

Die Fotomontagen und dann in einem weiteren Schritt die erneute Collage in Buchform führen zu einer Verrückung, dem Erschaffen von Nebenexistenzen, die den Kontext des Einzelwerkes und den unserer Wahrnehmung abermals verschieben. Wie in einer Exegese erhält das Werk hinter Glas ein neues Brennglas, wenn es uns auf Tischen oder Konsolen wiederholt entgegentritt. Es geht dabei nicht bloß um die Verschiebung von Maßstäben oder Räumen, die uns einen Schritt zurücktreten lassen, etwa im Blick auf die Auflösung des Druckes und der des tout-ensemble. Wir bemerken, wie alle Verfahren ganz unterschiedlich mit Licht operieren. Hier das langsame Freilegen im Wegarbeiten des kosmischen Schwarz der Glasplattenbeschichtung, das Auge dicht den Operationen von Finger und Hand folgend, dort der maschinelle Scanprozess. Daneben das Auslösen des shutters als technischen Befehlsempfänger des Willens; und zum Ende das digitale Collagieren, welches die Nahtstellen der ontologischen Ebenen zu verschweißen und zu verdecken sucht.

Mit dem Eintritt in den neuen Raum verschiebt sich mit dem Ort ebenso die Zeit. Dem physikalischen Licht des Ateliers gesellt sich die mikroelektronische Lichtgeschwindigkeit der Halbleiter hinzu, die in der Postproduktion zu den fast filmografischen Sets führen. Die Überzeugungskraft der montierten Welten besteht, ganz so, wie es die Surrealisten vorsahen, im Zusammenführen von Dingen aus unterschiedlichstem Kontext, indem ihre Nahtstellen verschwinden und sich so ein neues Drittes ergibt, eines, das die Wahrheit hinter den Dingen zutage befördert. Bei Westermann geschieht das ohne provokativen Schock, und seine Technik wirkt darüber überzeugend: als ob die Collagen die Zeiten ihrer Bauteile zu einem Neuen in einem gleichzeitigen Arretieren und Dehnen der Zeit zusammenführen. Das Verweben der Kunstarten und „Erzählebenen“ wirkt als Perforierung der Zeit, jedenfalls unserer landläufigen Vorstellung einer bloß in eine Richtung voranschreitenden Zeit der Unruh(e), derjenigen der Nervosität so gut der des Schwingsystems mechanischer Uhren samt ihrer Hemmung, das im 17. Jahrhundert mit Christian Huygens den Siegeszug der Arbeits- und Lebenstaktung eingeläutet hat. Im Blick auf die Werke, deren Gegenstände hängen und stehen, für etwas dahinter, jenseits des Links oder Rechts im Bild, stehen, fühlen wir uns dem flüchtigen Charakter der Zeit enthoben.

Ähnliches gilt für den Ort. Ohne Titelei bleiben wir, selbst in der Fixierung vor den Dingen, ortlos. Und erst die sprachliche Zuordnung fügt die Färbung des Raumes, seine Atmosphäre, dem Bild hinzu. Mit den harten Anschneidungen zu den Bildrändern imaginieren wir unweigerlich eine Umgebung, die pure Imagination wird dann Teil des realexistierenden Werkes. Die Orte entstehen in der Simulation des Kunstwerks, als selbst wiederum montierte Realität. Doch erst das Narrativ rund um das Werk als Objekt ist es, welches uns die Natur der Umgebung, ihren Sinn und ihren Geschmack entschlüsselt.

Die Gleichzeitigkeit des Seins am anderen Ort

Amherst, Berlin, Karlsruhe, Baden-Baden, Paris, die Absenderadressen der Briefe ergeben das Bild eines Weltreisenden, die Orte kontrastieren Metropolen wie New York mit ferner und wilder Natur (Himalaya) sowie beschaulichen Städten eines verlangsamten Lebensrhythmus, etwa Baden- Baden. Das Verbindende ist die Entdeckerneugier, wie sie sich mit den Heroen der Expeditionen des 19. Jahrhunderts kristallisierte. Dieses Verlangen nach Reisen, nach Unbekanntem, klingt zum Beispiel mit dem Brief vom 28. Januar 2020 an, in dem Westermann auf die East India Company und dann auf William Amherst zu sprechen kommt, den Generalgouverneur Indiens von 1823 bis 1828, um erstaunlicherweise gleich darauf von Blüten und einer séance de photos in Düsseldorf zu berichten. Es geht um die Pflanze Amherstia Nobilis, den selten anzutreffenden Tohabaum, einen in Asien gedeihenden Hülsenfrüchtler, der in den Botanischen Gärten Europas damals noch unbekannt war und den der dänische Botaniker Nathaniel Wallich 1829 erstmalig beschrieb. Unter anderem Mitglied der Leopoldina und der Académie des Sciences in Paris, gelangten über ihn zahlreiche Pflanzen Asiens in die europäischen Herbarien. Die Countess Amherst, Sarah, Gemahlin des genannten Gouverneurs und selbst Botanikerin, stand mit Wallich in Kontakt und ist nun Gegenstand von Thilos Brief an Stéphanie, zwischen botanischer, historischer und wissenschaftsgeschichtlicher Recherche. Am 18. April zwei Jahre zuvor berichtet der Künstler vom Fortgang seiner Arbeit und der Aussicht, diese in Paris fortsetzen zu können. Er tut dies aus Amherst, Virginia – nicht Massachusetts, wo 1903 der Asteroid des Hauptgürtels unseres Sonnensystems, Amherstia, entdeckt wurde –, wo er am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) als Künstler eingeladen war. Gegründet von Elizabeth Coles Langhorne und Nancy Hale, der ersten weiblichen Reporterin der New York Times, führt uns dieser Ort wieder auf das zurück, was Thilo Westermann zu faszinieren scheint: die Botanik in ihrem Exotismus, denn die Künstlerresidenz in Amherst liegt in einem ehemaligen Molkereibetrieb auf Mount San Angelo, der uns eine Wunderwelt aus seltenen Bäumen und Pflanzen, insbesondere aus Asien, eröffnet. Mit der Zweigstelle des VCCA in Auvillar in der Garonne führt uns die Assoziationskette zurück nach Frankreich.

Die Briefe und deren erzählerische Technik scheinen in einem den Bildern verwandt: Sie produzieren scheinbare Kurzschlüsse, neue Horizonte eröffnende Sprünge, die uns auf die Spur mäandernder Zusammenhänge setzen und damit Sinn generieren. Beides, das Reisen als Erlebnis der Passage (Abb. 5), eine Anspielung auf das von Walter Benjamin thematisierte Flanieren, und die Botanik vor Ort als Thilo und Stéphanie verbindendes Faszinosum, führt aus dem Korpus der Briefe hinaus zu konkreten Werken. Die digital montierten Installationen des Künstlers zeigen uns das nach links invertierte Profilporträt Stéphanies zusammen mit Telefon oder dem Hinterglasbild einer Kristallvase samt Vanda Miss Joaquim, einer Orchideen-Hybride [S. 70-71]. Nur scheinbar nebenbei sehen wir die gestapelten Bücher, die mit den Titeln Männer und ihre außergewöhnlichen Gärten sowie Jardins Chinois das Bild zum Ausdruck überdauernder Passion werden lassen. Auch hier erschafft die Schichtung, das Beieinander in Gleichzeitigkeit eine Passage, die einer Zeitreise an mehrere Orte gleichkommt. Das Buch der Oetker Collection zu den Masterpiece Hotels zwischen West-Indien und Antibes stellt die Frage nach Orten erneut, nach imaginären Paradiesgärten, die uns ein „Eden Being“ versprechen, wie ein Serientitel aus dem Bücherstapel lautet, der selbst diesen einzigen Ort in Wiederholungen neu erfindet.

Fugenräume

Die Vishnu Persaud, einem der Zeichner von Wallichs dreibändigem Kompendium Plantae Asiaticae Rariores (1830-1832) gewidmete Hinterglasmalerei Amherstia nobilis (Abb. 6) führt das monumentale Bild der Blüte des Tohabaumes mit seinem fiktiven Kontext ein. Über die Maßen groß, angeschnitten und damit auf ein Außerhalb verweisend, dient es als ins lichtlose Schwarz eintauchender Fonds, vor dem sich das Nussbaumbuffet in den Raum an die Bildgrenze schiebt [S. 180/181]. Der Exotismus verbleibt hier der Perspektive des europäischen Blicks verhaftet. Die vergoldete, mit ihrer gealterten Oberfläche ihr eigenes Zeitmaß vortragende Sitzstatuette repräsentiert den vom Bodhisattwa zum erleuchteten Buddha gewandelten und damit dem ewigen Kreislauf entkommenen Bedürfnislosen. In der Vergoldung scheint er von innen zu leuchten. Zusammen mit der elektrischen Lampe und dem orientalisierenden Schirm sowie dem Kerzenhalter tragen die Bilddinge die Zeitdistanz anhand eines Mediums vor: des Lichts, das Grund und Ursache für das Erscheinen des uns gedoppelt vor Augen tretenden Kunstwerks ist. Weder die Lampe noch das Kerzenlicht, noch aus der Ära vor Edison stammend, leuchten, die Lichtquelle ist ein Drittes, wie auch die Duftstäbchen nicht wie Räucherstäbchen glühen. Nur in der Imagination und unsichtbar erfüllen deren Gerüche und Moleküle den Raum des Dazwischen, als Hintergrundstrahlung einer Verklammerung von Orten und Zeiten.

Stereometrien, Raumebenen eigener Gesetzmäßigkeit zwischen Hinterglasbild und Unikatdruck, schließen in den Fotomontagen auch die Ebenen des Raumes ein, der zur Präsentation des Werkes dient. Parkett- oder Linoleumboden, Betonwand, Vorhang und das Glas der Fenster „reflektieren“ diese Philosophie der Flächen, Transparenzen, Durchsichten und Beleuchtungen (Abb. 7). Der Raum selbst, das Atelier, die Lobby dringen in das Werk ein, eine Einstülpung des Außen ins Innere des Auges, als Strudel einem Licht schluckenden und damit Raum und Zeit in eins setzenden schwarzen Loch gleich, das gleichwohl alles Rektanguläre erhellt. Diese Flächen fokussieren unseren Blick immer zugleich auf die Materialität der Oberflächen: Vergoldungen, Porzellan, Glas, poliertes Holz, Beton, Papier, Resopal und Furnier. Mit der mehr oder minder perfekten glatten harten Oberfläche ergibt sich im Kontrast zur Zartheit der Bilder, der Zeichen und Buchstaben der Handschrift auf den Autografen der Correspondance avec Stéphanie eine stille poetische Kraft. Man könnte von einer kühlen und stillen Beobachtung von Verletzlichkeiten und Vergänglichkeiten sprechen, die im Einschreiben in die Dauerhaftigkeit harter Materialien vor der Endgültigkeit des Todes bewahrt werden. Das Herausarbeiten aus der schwarzen Schicht, das Ablichten und die Neuerschaffung im Pigment holen die Dinge aus der verstrichenen Zeit hervor.

Kosmogonie der Mohnblüte

Je verwobener die Werke Thilo Westermanns in seinen Montagen erscheinen und uns einen Assoziationsraum im Momentum der Verschränkung von Zeiten offerieren, umso isolierter treten uns die Dinge in seinen Hinterglasbildern entgegen. Das liegt am schwärzesten Schwarz eines Hintergrundes, dessen Nichts uns alle Sinnesdaten vorenthält – die kalte Erblindung in der Lichtlosigkeit. Die geschwärzte Ebene hinter Glas wird zum raum- und richtungslosen Fonds, generiert die Unendlichkeit einer kosmischen Tiefe, die dann den Gegenstand in einer unausweichlichen Präsenz dem Betrachter entgegenstrahlen lässt. Es sind die Lichtpartikel, die aus dem rückwärtigen Nichts heraus leuchtenden Lichtwellen, die diese Erscheinung erzeugen. Der Künstler erreicht dies durch das Hinterlegen der Platte mit dem Reinweiß einer in der Wirkung entmaterialisierten Ebene hinter dem Bild.

Im Bildnis der Argemone mexicana (Abb. 8), die unerwartet von rechts in das Bildgeviert hineinragt, entfalten sich die Mohnblätter fast zu einer planetaren Konstellation vor der Eiseskälte eines Weltenraums, als handle es sich um weißblättrige Sonnensegel, die das Licht einzufangen trachten. Ihre filigran hauchdünnen Blütenblätter repetieren die Reflexion über Raum und Fläche der schwarzen Glasplatte (und letztlich des Papierbogens im Buch). Mit den Segmentierungen und der Kreisform einer unregelmäßigen Silhouette changiert die Blüte zwischen beiden Dimensionen, der zweidimensionalen Entfaltung und Darstellung und der des unendlichen Raumes. In der Dauer der Betrachtung scheint das Auge von der gewohnten Dreidimensionalität in eine vierte Dimension zu gleiten. Nicht ohne Grund fand die Pflanze Eingang in die Presse unzähliger Poesiealben. Die verschatteten Blütenstengel und -blätter, welche den Planeten der Empfindsamkeit durch das Schwarz zum Rand hin wie in Schwerelosigkeit verankern, stehen in leisem Kontrast zum Schauspiel der planetaren Nachtblüte. Mit ihren Krümmungen im verschatteten Raum lassen uns die hyperparaboloiden Formen wie kleine Raumanker die Geometrie des kosmischen Tanzes mehr erahnen denn durchdringen. Und wir erfahren auch nicht, wer die stille Szenerie beleuchtet, das Licht scheint aus unserer Richtung selbst zu kommen und leuchtet doch aus den Tiefen des Raumes uns entgegen.

Der Buntstiftzeichnung der Rose, die sich wie ein verblassendes Souvenir vom weißen Grund des Blattes absetzt, gelingt Ähnliches mit entgegengesetzten Mitteln (Abb. 9). Die Fältelungen und Schichtungen der Rosenblätter, die uns eine komplexe Architektur der Blüte verraten, sind hier noch Andeutungen eines Umrisses, dort farbliche Verdichtung einer fast schon olfaktorischen Empfindung. Der makroskopische Blick auf das Blatt zeigt keinerlei Linien oder Begrenzungen, und der Blick auf das Pointillé des Gezeigten fusioniert erneut die Spuren des Buntstiftes mit seinem Träger, dem Papier. Ortlos und in Schwebe der nächtliche Mohn – die Rose in gleißender Auflösung im Licht. Wir haben es hier mit zwei Polen zu tun, an deren Grenzen uns die beiden Werke die Frage nach den Realitäten der sichtbaren Welt stellen. Sie tun dies nicht zuletzt mit ihrem Verweis auf die Physiologie des Sehens, das Wunder des interpretierenden Auges, das, als zerebrales Organ aktiv, in der Zusammensetzung der Data Imaginarien zur Welt bringt. Dieses schöpferische In-die-Realität-Entlassen hinterliegt auch dem Ganzen des Werks, des über Jahre erwachsenen Zwiegesprächs mit Stéphanie de Beauharnais. Nicht weniger real als alles medial Vermittelte führt dies zu Reisen, Gesprächen, Übernachtungen und Leben in Hotelzimmern, Archivbesuchen, Atelierstunden und Ausstellungen, deren reale Besucher den Zyklus mit ihrem Wiedereintritt in die Imaginationen erneuern.

Passagen

Die Bilder, die uns diesen Einblick in das Entstehen des Werkes als Korpus gewähren, sind Schnitte durch die Zeit, arretierte Momentaufnahmen der Passagen zwischen Aufbruch und sich erneutem Einrichten, eines Zustandes, dem alle Rastlosigkeit ausgetrieben ist. Und bei allem Exotismus, der das Imaginarium ferner, tropischer Länder aufruft, alles an Thilo Westermanns Werk – die Bilder, die Texte, ja der Künstler selbst – bleibt kosmopolitisch und in einer ganz spezifischen Weise „kultiviert“, einer Kultur, die das Zusammen von Geschichtsbewusstsein und Modernität nicht nur als intellektuelle, sondern auch als ästhetische Seinsweise fasst. Sollten wir für das bildkünstlerische Werk eines existenzphilosophischen Fortschreitens eine musikalische Entsprechung wählen, so fiele uns die Fuge mit ihrer polyphonen Mehrstimmigkeit ein, eine Entwicklung in der Zeit, die mit Varianten und Wiederholungen ihre eigene Linearität überwindet. Kein pompöser Introitus oder Finale setzt hier einen Anfangs- oder Endpunkt: Die Unabschließbarkeit der Variationen macht das Werk zum ständigen Begleiter.

Was kann einem Künstler Schöneres widerfahren, als mit dem Leben dieser passionierten Existenz und seinem Arbeiten als Existenzform diese Realitäten zu gestalten. Wie in einer Raumzeitkrümmung, die in der Relativierung all der genannten Zutaten erfahrbar wird, werden wir eingesogen in die Ontologie hinter dem Glas; in die undurchdringliche Ebene, die zumeist unseren Alltag auf animierten und fremdgesteuerten Smartphones oder Bildschirmen von den erleuchteten Begegnungen trennt. Es geht um das kreative Zusammentreffen mit den interessantesten Protagonisten, exotischsten Dingen und bedeutsamen Akteuren der Existenz. Thilo Westermanns Transparenzen und seine Perforierungen der Zeit, die Handgreiflichkeit seiner Werke ebenso gut wie deren poetisch philosophisches Ausgreifen lassen uns in die Kulturgeschichte als individuelle, bisweilen intime Aktualisierung eintreten. Wir tun dies nicht als bloß spekulative Reflexion kunsthistorischer Arbeit, denn gerade das Einlassen auf das Lesen der Spuren, die biografische Privatisierung kultivierter Affekte, machen diesen Übertritt immer zugleich zur Sinneserfahrung.

Westermanns Präferenz für die Glätte der Oberflächen – sie sind meist selbst Resultat aufwendiger Prozesse und handwerklicher Fertigung – versiegelt in seinen Werken die Zeit. So wie die Abzüge der Fotomontagen im Diasec-Verfahren, die uns mit einer weiteren Acrylschicht vom Raum im Bild trennen und damit die Existenz im Foto betonen, führen die Perforationen, mit deren Hilfe unsere Betrachtung diese Schichten durchdringt, zur Entdeckung der Welt hinter den Oberflächen. Es sind diese eingefugten Transparenzen, die das Sehen befördern und die Zeit in erneuten Fluss versetzen. Wir entdecken damit etwas von der unendlichen Kette der Wesen eines Arthur O. Lovejoy, des immerwährenden Geflechts der Naturgeschichte so gut wie des Menschenschicksals. Und in dieser Entdeckung werden wir mit dem Werk von Thilo Westermann zugleich den Bedingungen dieser Erfahrung gewahr: Raum und Zeit als Formen der Anschauung, die zweite kopernikanische Wende und Raumzeitverschiebung eines Immanuel Kant, welche die Anwesenheit Stéphanie de Beauharnais im Anschauen der Bilder und Lesen der Briefe in Realität überführt.

Publiziert in Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hg.): Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 213–226.