Hans-Jürgen Hafner  Berliner Luft, Pariser Licht (2022)

Was die Modernisierung der Kunst an der Wende zum 20. Jahrhundert aus deutscher Perspektive betrifft, wäre sie ohne den Blick auf Paris als die exemplarische Metropole der Moderne kaum zu haben gewesen. Und auch deshalb ging sie nicht ohne Reibungen ab, die längst nicht alle geglättet sind.  

Wer will, kann sich – nachdem die Museen nach den Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wieder zaghaft geöffnet haben – selbst ein Bild von dem gravierenden kulturellen Unterschied machen, der zwischen dem durch den Sensationssieg über Frankreich ins militaristisch-imperialistische Korsett der Staatsnation gezwungenen Deutschen Reich und der so genannten grande nation, ihrerseits eine sehr deutsche Zuschreibung, samt seiner durch und durch modernen, auch als Konsequenz einer langen Reihe von Revolutionen ausdifferenzierten Zivilgesellschaft bestand. Machen wir den Unterschied an der Luft, dem Licht fest: dem Kontrast, den sinnfällig erlebt, wer in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel, nachdem er die wirklichkeitsgesättigte Berliner Luft Adolph Menzels geschnuppert hat, ins bläulich-kühle und zugleich energetisch vibrierende Licht des Impressionisten-Saals in der zweiten Ausstellungsetage tritt und den Blick nach links, auf Monets Saint-Germain-l'Auxerrois Paris richtet. Nicht, dass der Akribiker Menzel kein Moderner gewesen wäre. Um das bestätigt zu finden, brauchen wir uns gerade seine späten Bilder des wimmelnden Pariser Großstadtlebens nicht, sehr wohl aber sein frühes Berliner Hinterhaus und Hof anzusehen. Allein seine Umgebung, das Berlin der Preußenkönige, war es nicht. Oder besser: nicht mehr. Verlorengegangen war die Idee einer auf Basis des Kulturellen verfassten Nation, getragen von regionalen Kosmopoliten, wie sie der Historiker Friedrich Meinecke ex post beschrieb. Und auch die Gegenprobe funktioniert. Im Gegensatz zum fahlen Licht, der leeren Luft, die in den konzeptuellen Landschaftskonstruktionen eines Caspar David Friedrich herrschen, lässt sich unter der Pariser Sonne frei atmen – freier atmet auch heute selbstverständlich der, der über etwas Geld in der Tasche verfügt. Egal ob in Berlin oder in Paris, die Sonne kennt keine Gleichheit.

Die Butterfahrten Hugo von Tschudis nach Paris, die eine Handvoll Meisterwerke jener Künstler, die man ohne recht zu wissen warum als ‚Stil’ des Impressionismus‘ kanonisiert hat – und damit bis heute die damit verbundenen künstlerischen und kunstsoziologischen Errungenschaften unterschlägt –, nach Berlin brachten, waren zugleich Shoppingtouren und Bildungsreisen. Was auch dank der Expertise Max Liebermanns rechtzeitig zum Fundament der modernen Kunst in Berlin wurde, kostete Tschudi erst sein Amt als Direktor der Berliner Nationalgalerie. In München wurde er Zielscheibe des reaktionär antimodernen „Protests deutscher Künstler“, verfasst von Carl Vinnen, der das bisschen Modernität, das er in Worpswede kosten konnte, in den falschen Hals bekam. Daher vielleicht der aufgebrachte Ton des frühen Wutbürgers. Allerdings hat sich Herders „Volksgeist“, einst konzeptuelle Grundlage der alten Kulturnation, als rassifizierter Ungeist längst zu substanzialisieren begonnen und ist als Nachwehe dort zu spüren, wo sich ein kleiner Teil der Bevölkerung als Volk fühlt und als Pack geriert.

Das bläulich-kühle Licht von Paris ist nicht von Ungefähr zum Element und Thema der neuen Arbeiten von Thilo Westermann geworden. Er hat es regelrecht zu eigen gemacht: einen Ausblick über die Pariser Dächer auf den Eiffelturm in die Cadrage seines Atelierfensters in der Cité internationale des arts einmontiert – aus plausiblen Gründen. Schließlich wissen wir von Jacques Rivette, dass, gehören uns erst einmal die Dächer, selbstverständlich ganz Paris gehört. Und über den Unterschied zwischen Menzels Berliner Luft und Monets Pariser Licht habe ich oben schon gesprochen.    

Westermanns handwerklich und wissenschaftlich gleichermaßen informierte Kunst basiert auf dem Kontrast zwischen einer einerseits ziemlich flaneurhaften, andererseits penibel-fleißigen Art und Weise der Aneignung. Beide Seiten treffen sich in der Reproduktion seiner Fundstücke: ihrer behutsamen Exponierung als geduldig ausgeführte Hinterglasmalerei und der pragmatischen fotografischen Vervielfältigung, die nicht zwangsläufig Menge erzeugt, sondern Skalierung erlaubt. Allerdings brauchen wir ja nicht unbedingt weiter mühsam in Worte fassen, was sich mit sehr viel größerem Plaisir betrachten lässt. Handwerk, selbst das kunstvollste, war immer Handwerk und jede Blüte ist schön.

Die Kunst, über die es sich zu reden lohnt, setzt an einer anderen Stelle an und realisiert sich in temporären Arrangements von Bildern, die Art wie Westermann sie an spezifischen Orten, etwa am Schreibtisch eines Pariser Ateliers oder dem Kaminsims in der Wohnung von Freunden zueinander in Beziehung setzt. Auch, wie er Bildelemente migrieren, in andere Bildzusammenhänge wandern lässt. Das ist als Akt oder Verfahren ‚diskursiv’, vom Format her betrachtet ‚Ausstellung’ und im künstlerischen Sinne ist es ‚Arbeit’, worüber es sich zu sprechen lohnen sollte. Betrachten Sie diesen Text als Doppelpunkt dazu.

Publiziert in Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hg.): Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 308–309.